Erstveröffentlichung: 21.1.2025
Letzte Aktualisierung: 22.1.2025
Auf allen Ebenen haben wir Menschen Schwierigkeiten mit klaren, würdevollen, verletzungsfreien Grenzsetzungen. Auf den globalen politischen Ebenen über die wirtschaftlichen Ebenen und den Bildungsebenen bis hin zu Familien und dem Umgang mit sich selbst.
Wir neigen immer wieder dazu, bei Grenzüberschreitungen die grenzüberschreitende Person abzuwerten, zu beschimpfen, ihr eine Schuld zu geben und sie zu bekämpfen. Zumindest wollen wir, dass dieser Person bewusst wird, was sie uns angetan hat. Wir wollen ihr ein Feedback für ihr übergriffiges Verhalten geben und erwarten dabei, dass sie "versteht". Im schlimmsten Fall wollen wir "Vergeltung" und wollen (oft unbewusst) genauso die Grenze der anderen Person überschreiten, wie sie unsere Grenze überschritten hat, damit sie selbst "spürt", wie es uns ergangen ist. Oder wir ziehen uns einfach komplett von dieser Person zurück, soweit es uns möglich ist.
Im Umgang mit uns selbst neigen wir zu Selbsteinschränkungen und im schlimmsten Fall zu Selbstabwertungen und Selbstbestrafungen.
Diese gesamte Dynamik beginnt schon, sobald in unseren Augen ein anderer Mensch etwas falsch macht und wir ihn bremsen wollen. Wir schauen direkt auf das falsche Verhalten und wollen es stoppen: "Hör auf damit!" Wir bekämpfen also das falsche Verhalten.
Betrachtet sich die andere Person als unschuldig, bewertet sie ihr eigenes Verhalten anders oder ist sie sich nicht bewusst, was sie gerade Falsches gemacht hat, dann ist die Chance hoch, dass sie sich durch unsere Bremse angegriffen fühlt, abgewertet fühlt, sich nicht gesehen oder vielleicht sogar entwürdigt fühlt. Im schlimmsten Fall will uns nun die andere Person in unserer Bewertung bremsen: "Lass mich in Ruhe!" oder "Misch dich nicht ein!" oder "Du überschreitest meine Grenzen!" oder "Was du sagst, ist absoluter Quatsch!" oder "Du bist genauso!" - oder sie zieht sich einfach von uns zurück.
So beginnt eine Auseinandersetzung, es entstehen gegenseitige Verletzungen, im schlimmsten Fall startet ein Krieg.
Kurze Erklärung der "Zielbezogenen Wertung":
Beschreibe ganz klar dein Ziel, deinen Wunsch, dein Bedürfnis, deine Bestrebung, deine Vision, deine Gewohnheit, das/die du gerade vor Augen / im Gefühl hast, und erkläre zusätzlich, dass etwas Bestimmtes dazu passt oder leider nicht dazu passt.
Das ist die Zielbezogene Wertung. Ganz einfach.
Wenn ein Dirigent im Orchester einen falschen Ton hört, dann schaut er zuerst in die Noten, um dort noch einmal zu überprüfen, wie es eigentlich richtig ist (falls er es nicht auswendig im Kopf hat). Anschließend sagt er dem falsch spielenden Instrumentalisten freundlich: "In Takt 47 ist die zweite Note ein Gis, kein G."
Was macht der Dirigent? Er schaut darauf, wie es richtig sein sollte. Er schaut auf den gelösten Zustand, auf das Ziel. Und dieses Ziel kommuniziert er: "Die zweite Note ist ein Gis." Anschließend benennt er den Fehler, also das, was nicht zum Ziel passt: "... kein G."
Wenn im Kindergarten ein Kind ein anderes Kind schlägt, neigen manche Erwachsene dazu, das schlagende Kind zu bremsen: "Hör auf damit! Das tut dem anderen Kind doch weh!"
Zielbezogene Wertung:
Der Erwachsene wendet sich dem verletzten Kind zu und sagt: "O je, das tut dir bestimmt weh, oder? Und du möchtest dich gut fühlen. Du möchtest dich wohl fühlen - und keinen Schmerz erleiden, stimmt´s? Wie könntest du dich optimal wohl fühlen?" Und nun wendet sich der Erwachsene zu dem Kind, das geschlagen hat: "Wie könnten wir uns so um das andere Kind kümmern, dass es sich gut fühlt und keinen Schmerz spüren muss?"
Wenn dann das schlagende Kind sagt: "Aber der andere hat mir die Puppe weggenommen!", dann kann der Erwachsene reagieren mit: "O je - und das hat dir auch weh getan, stimmt`s? Und du hättest am liebsten mit der Puppe weitergespielt, richtig? Was können wir tun, damit du mit der Puppe wieder weiterspielen kannst oder du wieder Freude hast beim Spielen?"
Der Erwachsene konzentriert sich immer auf die Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, die hinter allem stecken.
Grenzen können auf zwei Weisen klar kommuniziert werden:
a) Das darf nicht sein und gehört nicht dazu! Das darf nicht passieren!
= direkter Kampf gegen etwas
b) Mein Ziel ist "XYZ". Zu meinem Ziel "XYZ" gehört unbedingt a, b, c und d. Um mein Ziel zu erreichen, brauche ich ganz klar u, v und w.
= klare Zielbeschreibungen
Was nicht zu meinem Ziel passt, ist e, f und g.
= Abgrenzung durch klare Unterscheidung zum Ziel
Wenn wir alle in jeder Situation diese Möglichkeit b) nutzen, um in der Liebevollen Führungsrolle deutlich zielbezogen zu werten und zu unterscheiden und auf diese Weise klare Grenzen durch Unterscheidungen zu ziehen, dann bleibt die bewertete Person trotzdem gewürdigt und fühlt sich nicht persönlich angegriffen oder abgewertet. Sie kann sogar deutlich nachvollziehen, woher die Bewertung oder die Grenze kommt und dass diese Bewertung oder die Grenze ganz direkt mit einem bestimmten Ziel zu tun hat - und sogar, mit was für einem Ziel.
Und wenn wir zusätzlich die Situation vollkommen "entschärfen" und Schuldzuweisungen keine Chance geben wollen, dann können wir ergänzen: "Du kannst aber nichts für meine Wertung und für meine Grenze, denn sie hängen direkt mit meinem Ziel zusammen. Hätte ich dieses Ziel nicht, dann würde ich auch nicht so werten und auch diese Grenze nicht ziehen."
Auf diese Weise bieten wir unserem Gegenüber den Raum, für uns und unser Ziel möglicherweise sogar in die Mitfühlende Fürsorge-Rolle zu wechseln.
Wir können auch direkt fragen: "Würdest du mir für mein aktuelles Ziel zur Verfügung stehen?"
Die Zielbezogene Wertung ist ein kleiner und feiner Unterschied in unserer Kommunikation - kann aber riesige positive Auswirkungen auf unser Miteinander in allen Bereichen haben, wenn wir alle auf diese gelöste Weise zielbezogen werten.
Ein weiterer Vorteil: Die wertende Person macht sich selbst durch ihre Zielbezogene Wertung bewusst, was sie "eigentlich" will und warum sie überhaupt wertet. Sie macht sich ihr Ziel, ihren Wunsch, ihr Bedürfnis, ihre Bestrebung hinter ihrer Wertung wieder bewusst. Dadurch kann sie neue Türen zu neuen Lösungsmöglichkeiten öffnen. Denn ist die grundlegende Bestrebung hinter einer Wertung wieder bewusst, dann kann man auch klarer nach neuen Wegen zum Ziel suchen. Schaut man jedoch nur auf das, was jetzt gerade stört und falsch ist, dann bleibt man im Kampf gegen das Falsche stecken - besonders wenn das Bekämpfte sich nicht verändern lässt und ebenfalls zu kämpfen beginnt.
Hinter jeder Wertung und hinter jeder Grenze steckt eine ursprüngliche Bestrebung.
Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Angst vor Hunden. In ihren Memoiren erwähnt sie, dass es während ihrer Amtszeit einmal eine Situation gab, in der sie zu Besuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin war (2007). Putin wusste um ihre Angst und ließ trotzdem seine Labrador-Retriever-Hündin mit im Raum (hier ein Foto auf Wikipedia). Frau Merkel berichtet, dass sie es ausgehalten hat und abwartete, bis die Situation vorüber war.
In der Liebevollen Führungsrolle hätte sie beispielsweise zielbezogen sagen können: "Ich möchte mich gerne bei Ihnen wohl fühlen (= Ziel). In Anwesenheit von Hunden fühle ich mich aber leider nicht wohl. Sie und Ihr Hund können nichts dafür, dass es mir so ergeht. Würden Sie mir trotzdem den Gefallen tun und Ihren Hund aus dem Raum begleiten lassen? Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar und ich könnte mich hier bei Ihnen viel wohler fühlen."
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos (Schweiz) am 21.1.2025 eine Rede gehalten. Unter anderem geht sie dabei auch auf die Beziehungen zwischen Europa und den USA ein, in denen Donald Trump gerade zum zweiten Mal sein Amt als Präsident angetreten hat. Sie beschreibt zunächst, wie intensiv die Volkswirtschaften der USA und Europa miteinander verflochten sind. Dann sagt sie: "Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel. Unsere oberste Priorität (= Ziel) wird daher sein, frühzeitig in Kontakt zu treten, gemeinsame Interessen zu erörtern und zu Verhandlungen bereit zu sein. Wir werden pragmatisch vorgehen und wir werden stets an unseren Grundsätzen festhalten, um unsere Interessen zu schützen und unsere Werte zu wahren. Das ist der europäische Weg."
Das ist eine klare Beschreibung der europäischen Sicht und der europäischen Ziele. Sie redet "zielbezogen".
Die Presse macht daraus:
"Von der Leyen warnt Trump vor Handelskrieg." (www.rnd.de am 21.1.2025)
"Von der Leyen warnte die USA vor einem Handelskrieg mit Europa und signalisierte zugleich Verhandlungsbereitschaft. 'Es gibt keine anderen Volkswirtschaften in der Welt, die so eng miteinander verflochten sind wie wir', sagte von der Leyen." (www.deutschlandfunk.de am 21.1.2025)
"EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den neuen US-Präsidenten Donald Trump vor einem Handelskrieg mit Europa gewarnt und Verhandlungsbereitschaft signalisiert." (www.n-tv.de am 21.1.2025)
Allerdings hat von der Leyen niemals gesagt: "Ich warne die USA / Donald Trump vor einem Handelskrieg." Denn genau dieser Satz wäre gegenüber den USA oder gegenüber Trump grenzüberschreitend gewesen. Ein Gegenüber davor zu "warnen", auf eine bestimmte Weise zu handeln, bringt den Warnenden in eine übergeordnete Rolle, ohne dass das Gegenüber dieser Rollenverteilung zugestimmt hat.
In Wirklichkeit hat von der Leyen würdevoll zielbezogen gesprochen. Sie hat höchstens "angekündigt", wie Europas Weg (Ziel) sein wird. Sie hat nicht "gewarnt". - Die Presse jedoch übersetzt ihre Aussagen in eine übergriffige Sprache. So entstehen entwürdigende Verzerrungen ... (werte ich persönlich mit meinem Ziel der "Zielbezogenen Wertung" im Hinterkopf).
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am 6. November 2024 zur Entlassung von Bundesfinanzminister Christian Lindner vor der Presse:
"... Wer in eine Regierung eintritt, der muss seriös und verantwortungsvoll handeln; der darf sich nicht in die Büsche schlagen, wenn es schwierig wird; der muss zu Kompromissen im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger bereit sein. Darum aber geht es Christian Lindner gerade nicht. Ihm geht es um die eigene Klientel, ihm geht es um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei. Gerade heute, einen Tag nach einem so wichtigen Ereignis wie den Wahlen in Amerika, ist solcher Egoismus vollkommen unverständlich." (www.bundesregierung.de)
Übersetze ich diese Aussage in eine Zielbezogene Wertung, dann klingt es wie folgt:
"Mein Ziel ist, eine Regierung zu führen, in der jeder meinem Eindruck nach seriös und verantwortungsvoll handelt, sich Schwierigkeiten stellt und zu Kompromissen bereit ist, von denen ich ausgehe, dass sie im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger sind. Leider empfinde ich das Verhalten von Christian Lindner als 'nicht zu meinem Ziel passend'. Und ich entscheide mich schlussendlich dafür, ihn nun aus seinem Amt zu entlassen. Für meine Ziele, meine Vorstellungen und meine dazugehörigen Bewertungen als auch für meine Schlussfolgerung kann er nichts."
Ein krasser Unterschied dieser beiden Aussagen, oder? Beide Aussagen führen letztendlich zum gleichen Ergebnis: Entlassung des Ministers. Allerdings kann man (mit Blick auf die Zielbezogene Wertung als Maßstab) sofort spüren, welche der beiden Aussagen Entwürdigungen und übergriffige Formulierungen enthält und welche der beiden Aussagen das Gegenüber vollkommen würdigt. Zusätzlich würde der Bundeskanzler durch so eine würdevolle Aussage die volle Verantwortung für seine subjektive Bewertung und Entscheidung übernehmen.
Bezogen auf meine subjektive Sichtweise der "Zielbezogenen Wertung" als auch bezogen auf meine subjektive Definition von Menschenwürde (PDF) bewerte ich die Aussagen von Olaf Scholz über Christian Lindner als "nicht zu meiner persönlichen Definition von Menschenwürde passend". Daher benutze ich als Beschreibung für seine Aussagen die Wörter "respektlos" und "entwürdigend". Allerdings kann Olaf Scholz nichts für meine persönlichen Sichtweisen, für meine Bewertungen und Formulierungen. :-)
Weitere Beispiele werden hier in nächster Zeit noch eingefügt ...